Eine 15-jährige Schülerin verschickt Videos einer islamistischen Gruppe, zieht sich aus ihrem Freundeskreis zurück und behauptet, in ein „wahrhaft islamisches“ Land auszuwandern. Ihre Freundinnen wenden sich hilfesuchend an die Schulsozialarbeiterin.
Eine sozialpädagogische Familienhelferin bemerkt in einer Familie, dass der familiäre Alltag strikt durch religiös begründete Prinzipien geregelt ist. Die Kinder leiden unter Schlafmangel und scheinen, mit Ausnahme des Schulbesuchs, von ihrer Umwelt weitgehend isoliert zu sein.
Im Verlauf einer sozialen Gruppenarbeit (§29 SGB VIII) kommt es immer wieder zu Konflikten rund um Religion zwischen dem Sozialarbeiter und einem jugendlichen Teilnehmer, die das Gruppenklima belasten und zu Lagerbildung führen.
Jugendhilfe als Ressource in Beratungsprozessen
In diesen oder ähnlichen Situationen können Berater*innen mit Herausforderungen von Radikalisierung, religiös-rigoristischen Erziehungsstilen oder religiös
gerahmten Konflikten konfrontiert werden. Hinzu kommen mitunter Fälle von Rückkehr aus Kriegsgebieten.
Für Berater*innen stellt dies den Kern ihrer Arbeit dar. Für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe ist dies nicht der Fall. Ihr Arbeitsalltag wird durch Erziehungsberatungen, Hilfeplangespräche,
Kinderschutzverfahren oder Dokumentationspflichten sowie zahlreiche anderen Aufgaben geprägt. Situationen, die als religiös-extremistisch oder rigoristisch gelesen werden,
sind dabei nicht alltäglich. Wenn sie auftreten, kann die Einschätzung, was der Fall ist und was zu tun ist, daher herausfordernd sein.
Eine konstruktive Bearbeitung gelingt, wenn die Hilfesysteme gut zusammenarbeiten. Im Rahmen einer Fachberatung zum Beispiel können Berater*innen
die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe unterstützen, betroffenen Familien oder Jugendlichen passende Angebote oder Hilfen anzubieten. In der Arbeit mit
Klient*innen oder ihrem sozialen Umfeld können die Leistungen und Kompetenzen der Kinder- und Jugendhilfe gefragt sein, um das Beratungsziel zu erreichen – zum Beispiel
über den Einbezug von Fachkräften der offenen oder der aufsuchenden Jugendarbeit, den Einsatz sozialpädagogischer Familienhilfe oder über stationäre Hilfen.
Die Zusammenarbeit gelingt insbesondere dann, wenn auch jenseits konkreter Fälle tragfähige Netzwerke etabliert sind und es ein Verständnis für die Mandate, Arbeitsweisen und
Perspektiven im jeweils anderen Handlungsfeld gibt.
Die Clearingstelle Radikalisierungsprävention unterstützt Fach- und Beratungsstellen dabei, Zugänge in die Kinder- und Jugendhilfe zu erschließen und mit ihren Angeboten anzudocken.
Anlaufstellen und eine Auswahl guter Erfahrungen, wie dies funktionieren kann, finden Sie auf diesen Seiten.
Nehmen Sie dazu auch gerne mit uns Kontakt auf. Wir freuen uns, von Ihnen zu hören!
Bedarfe an den Schnittstellen von Radikalisierungsprävention und KJH
Das Team der Clearingstelle Radikalisierungsprävention erhebt im Projektverlauf fortlaufend die Bedarfe von Landeskoordinierungsstellen, Fach- und Beratungsstellen im Arbeitsfeld religiös begründeter Radikalisierung und öffentlichen und freien Träger*innen der Kinder- und Jugendhilfe. Von Februar 2020 bis Januar 2021 wurden dazu mehr als 50 leitfadengestützte Gespräche in allen 16 Bundesländern geführt. Die daraus resultierenden (Zwischen-) Ergebnisse werden im Projektverlauf stetig aktualisiert.
Hier finden Sie eine Auswahl von Bedarfen und möglichen Ansatzpunkten für eine Stärkung der Zusammenarbeit zwischen Fach- und Beratungsstellen und Kinder- und Jugendhilfe:
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- Die Strukturen sowie die Arbeitspraxis von Berater*innen zivilgesellschaftlicher Beratungsstellen und die der Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sind in hohem Maße anschlussfähig. Diese Anschlussfähigkeit kann genutzt werden, um sich gemeinsam im multiprofessionellen Feld der Radikalisierungsprävention für die Belange und Bedürfnisse von Familien, jungen Erwachsenen und Kindern aus sozialpädagogischer Sicht stark zu machen.
- Fälle von Radikalisierung sind ein relevantes Randthema in der Kinder- und Jugendhilfe. Ein Randthema, weil nicht alltäglich; relevant, weil derlei Fälle eine große Komplexität und ein Potential für Verunsicherung auf Seiten der Fachkräfte bergen können. Fachberatung durch Beratungsstellen kann daher eine wichtige Unterstützung darstellen.
- Die Kinder- und Jugendhilfe braucht passgenaue Angebote der Fachberatung und Fortbildung. Die Fach- und Beratungsstellen brauchen die Zugänge und das Wissen um die konkreten Bedarfe, um passgenaue Angebote machen zu können.
- Das Wissen von Fachkräften in Fach- und Beratungsstellen sowie der Kinder- und Jugendhilfe um die jeweils unterschiedlichen Mandate und Selbstverständnisse, die jeweiligen Leistungen oder Angebote sowie Fachsprachen und Zugänge ist mitunter ausbaufähig. Hier können Ansprechpartner*innen, Austauschtreffen oder gegenseitige bzw. gemeinsame Fortbildungen eine Möglichkeit sein, auch fallunabhängig die Verbindung zu stärken.
- Regionale Unterschiede prägen sowohl Strukturen als auch Arbeitsrealitäten. So stehen beispielsweise Beratungsstellen in Flächenländern logistisch und personell vor anderen Herausforderungen als Beratungsstellen in Stadtstaaten. In Analogie dazu unterscheiden sich auch Jugendämter voneinander, in ihrem Einzugsbereich, der personellen und finanziellen Ausstattung sowie in ihrer jeweiligen Organisationskultur. Daher bedarf es auch hier maßgeschneiderter Unterstützungsprozesse um die Verbindungen an den Schnittstellen von Radikalisierungsprävention und Kinder- und Jugendhilfe zu stärken.
- Multiprofessionelle Zusammenarbeit muss stets neu ausgehandelt werden. In der fallbezogenen Zusammenarbeit von Fach- und Beratungsstellen, Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe, Sicherheitsbehörden und anderer relevanter Akteure treffen unterschiedliche Mandate, Ziele und Perspektiven aufeinander. Diese müssen in jedem Fall ausgehandelt werden, um dem jeweiligen Fall gerecht zu werden. Auch in Präventionsnetzwerken bedarf es einer rollenklaren Zusammenarbeit, in der die unterschiedlichen Mandate, Ziele und Perspektiven kommuniziert und akzeptiert werden.
Akteure der Kinder- und Jugendhilfe und ihre Rollen: ASD und freie Träger
Kernthema Kindeswohlgefährdung, Vorwurf „Kinderklaubehörde“, Dauerbrenner Überlastung: Wird Kinder- und Jugendhilfe öffentlich diskutiert, sind dies gängige Assoziationen mit „dem Jugendamt“.
Für Berater*innen, die selbst nicht aus der Kinder- und Jugendhilfe kommen, können die mitunter aufgeregten Debatten, die Fachsprache und vielfältigen Strukturen hinderlich sein, um sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen und sich einen Zugang zu erschließen.
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Tatsächlich ist die Kinder- und Jugendhilfe (KJH) eine ausdifferenzierte Infrastruktur sozialpädagogischer Dienstleistungen für Kinder, Jugendliche und Eltern. Dazu gehören einerseits Aufgaben wie der gesetzliche Kinder- und Jugendschutz und das damit einhergehende staatliche Wächteramt. Anderseits hält die KJH zahlreiche Leistungen wie beispielsweise Hilfen zur Erziehung, Angebote des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes oder offene Kinder- und Jugendarbeit vor. Ziel ist, passgenaue Hilfen und Unterstützungsleistungen für Kinder, Jugendliche und Familien bereitzustellen. Die bundesrechtliche Grundlage für die Kinder- und Jugendhilfe ist das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Es wird durch Ausführungsgesetze der Bundesländer ergänzt.
Je nach Anliegen können Berater*innen auf unterschiedlichen Wegen in der Kinder- und Jugendhilfe andocken – zum Beispiel im Jugendamt, bei freien Trägern oder Landesjugendämtern.
Jugendämter sind eigenständige Fachbehörden, die in der Regel in der Verwaltung von Landkreisen und kreisfreien Städten bzw. in Bezirksverwaltungen angesiedelt sind. In ganz Deutschland gibt es mehr als 500 Jugendämter. Ihr Aufbau und Auftrag ist gesetzlich geregelt, ihre personelle und finanzielle Ausstattung unterscheidet sich jedoch von Kommune zu Kommune. Dies kann sich zum Beispiel in der Gewährung von Hilfen zur Erziehung abbilden. Ist von „dem Jugendamt“ die Rede, ist meist der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) bzw. die Bezirkssozialarbeit gemeint. In den Aufgabenbereich des ASD fallen Kernaufgaben und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe wie der gesetzliche Kinder- und Jugendschutz, das staatliche Wächteramt oder die Hilfen zur Erziehung (HZE).
Die Umsetzung zahlreicher Aufgaben und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe erfolgt durch Träger der freien Jugendhilfe. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Jugend- und Wohlfahrtsverbände, kirchliche Verbände sowie Fachorganisationen und deren Zusammenschlüsse. Insbesondere im Bereich der Hilfen zur Erziehung übernehmen die Fachkräfte freier Träger die eigentliche sozialpädagogische Arbeit beispielsweise im Rahmen von Sozialraumteams, sozialpädagogischen Familienhilfen, sozialer Gruppenarbeit oder stationären Einrichtungen.
Für Berater*innen im Kontext religiös begründeter Radikalisierung können die sozialpädagogischen Kolleg*innen im ASD und bei freien Träger wichtige Partner*innen sein, um Klient*innen mit passenden Hilfen zu unterstützen, bedarfsgerechte Fachberatung anzubieten oder sich im Jugendhilfeausschuss oder lokalen Netzwerken fallunabhängig zu vernetzen und auf dem Laufenden zu halten.
Ein weiterer zentraler Akteur der KJH sind die Landesjugendämter. Anders als Jugendämter und freie Träger arbeiten sie nicht direkt mit Kindern, Jugendlichen oder Erziehungsberechtigten. Ihre Aufgaben liegen in der Unterstützung kommunaler Jugendämter und freier Träger durch Planung, Beratung und Fortbildungen sowie in der Anerkennung von freien Trägern und der Prüfung von Einrichtungen. Die bundesweit 17 Landesjugendämter haben sich in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (BAGLJÄ) zusammengeschlossen.
Für Berater*innen können die Kolleg*innen der Landesjugendämter wichtige Anlaufstellen sein, um zum Beispiel einen Überblick über Strukturen und Akteure der Kinder- und Jugendhilfe in ihrem Bundesland zu gewinnen oder Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe über Fortbildungen zu erreichen.
Weiterführende Links und Informationen zur Kinder- und Jugendhilfe
Allgemein
- Sozialgesetzbuch VIII Online
- Allgemeine Informationen über die Jugendhilfen in Deutschland
- Fachkräfteportal der Kinder- und Jugendhilfe
- Fragen und Antworten zu Kinder- und Jugendhilfe des BMFSFJ
- Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen (AJS NRW)
- Das Jugendamt. Unterstützung die ankommt.
Veröffentlichungen der BAGLJÄ zu Fragen von Radikalisierung
- Positionspapier „Radikalisierungstendenzen bei Kindern und Jugendlichen im Arbeitsbereich der Jugendarbeit“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter
- Handlungsempfehlung „Radikalisierung und Extremismus in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter